Änderungen vorbehalten

Unterricht mit Flüchtlingen am Tag der Offenen Tür (2015)

Unterricht mit Flüchtlingen am Tag der Offenen Tür (2015)

Am 21. November 2015 lud unsere Schule wieder zum Tag der offenen Tür. Eltern, Nachbarn und potenzielle Schülerinnen und Schüler sollten sich wie jedes Jahr einen Eindruck über unsere Schule verschaffen können - durch den Besuch von Unterrichtsstunden in den Klassen 5 und 6, Begutachtung von Projektpräsentationen verschiedener Fachschaften, Besuch von Informationsständen zu Austauschen, der Übermittagsbetreuung, dem Musikzweig, Führungen durch die Gebäude, Besuch von Musikauffährungen und Vieles mehr.
Im sogenannten Altbau fand aber noch etwas anderes statt: Angesichts der aktuellen Flüchtlingssituation war seit den Sommerferien das Bedürfnis entstanden, etwas zu tun, um den Flüchtlingen die Integration in unser Land bzw. unsere Stadt zu erleichtern. So entstand die Idee, einen Austausch zwischen Flüchtlingen, Schülerinnen und Schülern eines Deutsch-Leistungskurses in der Q2 sowie Referendarinnen und Referendaren des Faches Deutsch des ZfsL Köln zu initiieren, bei dem auch etwas Deutsch gelernt und gelehrt werden sollte. Es versprach, eine für alle lohnenswerte Sache zu werden: Die Schülerinnen und Schüler setzten sich gerade im Deutschunterricht mit dem abiturrelevanten Thema Mehrsprachigkeit auseinander, Bestandteil der Referendarsausbildung ist das Thema DaZ/DaF (Deutsch als Zweitsprache/Fremdsprache) und Flüchtlinge müssen Deutsch lernen. Über die Kirche kamen wir in Kontakt mit verschiedenen, Flüchtlinge betreuende Organisationen, die von der Idee angetan waren und für uns bei diesen die Werbetrommel rühren wollten. Es war von 20 bis 30 Flüchtlingen die Rede, die uns am Tag der offenen Tür besuchen würden. Schülerinnen und Schüler sowie Referendarinnen und Referendare bereiteten sich fundiert auf den Besuch vor: Es wurden Theorien zum frühen und spaten Fremdspracherwerb gebüffelt, geeignetes Unterrichtsmaterial gesichtet und in ausreichender Menge bestellt, ein Experte aus der Praxis in den Unterricht eingeladen, mögliche Gesprächsthemen diskutiert, Anlasse für einen nachhaltigeren Kontakt - wie ein Fußballspiel oder die Einladung zur Teilnahme an der schulischen Samba-AG - eruiert. Auch das einladende Herrichten der für den Austauschtag zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten wurde nicht vergessen. Die Vorbereitung schien gut zu laufen.
Doch dann erlitten wir einen herben Rückschlag nach dem anderen: Zwei Tage vor dem Termin gingen die ersten Absagen ein. Eine Gruppe unbegleiteter Flüchtlinge waren gar nicht rechtzeitig in Köln angekommen, eine Familie kam plötzlich nicht mehr zu den Treffen einer Helferorganisation, von einer weiteren Stelle gab es nur vage Auskünfte zur Anzahl der zu erwartenden Personen. Am Vorabend war nach vorsichtiger Schätzung mit etwa zehn Flüchtlingen zu rechnen.
Gekommen sind dann nur drei. Ein - insbesondere hinsichtlich des ganzen Aufwandes - frustrierendes Ergebnis! Allerdings war es für alle Beteiligten dennoch eine berührende, bereichernde und interessante Erfahrung - davon zeugt nicht nur die folgende Dokumentation eines (wie er selbst schreibt desinteressierten) Schülers, sondern davon zeugen auch die kürzlich geschriebenen Klausuren des betroffenen Leistungskurses, in denen die Erfahrungen mit diesem Projekt eingebracht werden konnten: Diese Klausuren sind so gut wie nie zuvor ausgefallen und lassen erkennen, dass die Ausführungen auf konkrete Erfahrungen gründen. Das ist doch schon etwas! Ich danke nochmals sehr herzlich allen, die uns unterstützt haben!

Dr. Tanja Kurzrock, 20. Dezember 2015


Ein Tag der offenen Türen

Ein Samstag. Die Sonne hat mich nicht geweckt und mein Wecker nervt. Tag der Offenen Tür, für ein paar Auserwählte und diejenigen, die ins Phantasialand in Brühl fahren. Ich gehöre nicht dazu; ich stehe vor der unglaublichen Erfahrung, das erste Mal in meinem Leben mit den sogenannten Flüchtlingen zusammenzutreffen. Hatte und habe kein Interesse, ist jedoch Pflichtprogramm. Grummelnd denke ich an solche, die sich aus den anderen Kursen noch für die Sache melden wollten und sehe auf die Uhr. Verrückte.
    Doch der Samstagmorgen stimmt mich milde. Es ist ein angenehmes Gefühl, an einem freien Tag früh wach zu sein, und ich liebe den Winter, die kalte, klare Luft und den endlos blauen Himmel über mir. Sogar die Farben sind kalt; sie versprechen Frost und Schnee und knisternde Kaminfeuer.
    Nicht einmal die Schule vermag es, den Sonnenschein abzufangen oder der Welt ihren kaltblauen Glanz zu nehmen. Kaminfeuer gibt es hier wohlgemerkt nicht; Feueralarm gibt es dagegen genug. Wir bereiten die Räume vor. Der zweite Kurs darf an diesem Tag nicht mitmachen; ich und andere rechnen, nachdem die Lehrerin erzählt, dass sie das Projekt aufgrund zu wenig Teilnehmern beinahe hätte absagen müssen, scherzhaft mit fünf bis zehn Menschen. Warum wir trotz Allem vier Räume brauchen, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch schleierhaft, das kommt mir dann doch etwas zu optimistisch vor (ich wusste ja nicht, wie es noch kommen sollte). Dafür haben nun alle etwas zu tun damit, die Räume wohnlich herzurichten, es gibt Kekse, Getränke, Kuchen und Referendarinnen. Davon sogar ungefähr für jeden Raum eine (und mehr), ich ende mit einem Partner und einer Referendarin im ersten Raum der vier. Diese schlägt nun vor, die Tafel anzumalen. Mir kommt das unnötig und kindisch vor, ich ergänze zum "Willkommen" meines Partners scherzhaft zwei Blümchen, eine Ecksonne, eine Wolke. Ich kann nicht bestreiten, dass es dann doch schöner aussieht, als vorher. Als dann aber eine Mitschülerin mit Namensklebestreifen ankommt, sträube ich mich und male stattdessen unsere drei Gesichter an die Tafel, Namen daneben, dazu meinen Klebestreifen. Fertig.
    
"Sie kommen!" schallt es dann plštzlich aus dem Flur (ich lag gerade musikhörend auf dem Tisch), bin aber sofort am Fenster, wo sich ein kleiner Pulk gebildet hat. Es sind tatsächlich drei, was alle Erwartungen untergräbt. Von unseren Räumen im ersten Stock haben wir einen fantastischen Blick auf den Innenhof und ich sehe sie jetzt zum ersten Mal. Man erkennt sie sofort. Drei junge Leute, männlich, tiefschwarz (bzw. braun) und eng nebeneinander her laufend; zu Fuß. Irgendwie sieht man, dass sie hier auf unbekanntem Terrain sind; es ist eine fremde Aura, die sie umgibt. "Gut", denke ich, "dann haben wir sogar noch einen Reserveraum für naja, als Reserve eben. Unsere Angst ist nun, dass sie hochsehen könnten; wir erkennen, dass sie uns auch zurückbeobachten könnten, das wäre sehr peinlich. Wir suchen Deckung, die wir aufgeben, als sie auch schon schneller als erwartet hinter uns stehen.
    Tatsächlich hat uns die Ferne nicht getäuscht. Es sind drei junge Männer; nun kann ich sie auch auseinanderhalten: Der erste der drei ist ein Großer, der stets fröhlich ist und lacht. Er ist am wenigsten schüchtern und führt die Truppe an, als sie hereinkommen. Er ist dezent und stilvoll gekleidet und hat eine gepflegte Lockenfrisur. Der zweite ist ein wenig zurückhaltender, aber auch er hat ein leichtes Lächeln auf den Lippen und ist kontaktfreudig; ein Kopfhörerkabel baumelt lässig aus seiner Jacke. Er hat eine sehr kurze Frisur, wenn überhaupt. Der dritte entspricht mehr meinem Klischee: Er sieht misstrauisch aus und ist schüchtern. Er betritt den Raum als letzter, eng an den anderen beiden. Er sieht trotzdem älter aus als sie und für mich nicht wie ein typischer Schwarzer. In meiner Erinnerung verblasst seine Farbe und lässt ihn für mich eher wie einen Osteuropäer wirken. Als wir uns alle gesetzt haben, kommt mir das Fehlen meines Namensschildes plötzlich unpassend vor und ich hole es schnell von der Tafel. Die Gruppe teilt sich automatisch und ich fange mit meinem Partner mit dem dritten zu arbeiten an. Er heißt Sahal. Der Smalltalk, den wir im Unterricht vorbereitet hatten, reicht für eine gefühlte Sekunde und erscheint unpassend. Unserer kann wohl am wenigsten Deutsch, er teilt sein Alter von 20 Jahren mit dem ersten, der Hamidou heißt. Mit einem Alter von 18 Jahren ist Mamadou (der zweite) der jüngste der drei, aber immer noch älter als ich. Das stört aber weder mich noch die anderen drei Betreuer (zwei sind eben noch dazugekommen) denn die Einschätzungsgabe hört beim Alter dann doch auf. Hamidou (der Fröhliche) kann noch am besten Deutsch und hilft Sahal (dem Schüchternen) und Mamadou (dem Mittleren) etwas, sich in die Arbeit einzufinden. Wir fangen sofort an, die Deutsch-Arbeitshefte, die wir bekommen haben und die wir den dreien am Ende als großzügige Gabe schenken sollen, aufzublättern und hektisch nach Seiten zu suchen, die wir Sahal präsentieren können. "Das bin ich!" lautet die Überschrift des Steckbriefes. Wir leiten Sahal an. Alle drei wissen, dass sie in "Hurth" wohnen, und ich weiß, dass Sahal keine Umlaute aussprechen kann. Er kommt übrigens aus Somalia, Hamidou und Mamadou aus Mali. Dezent überspringen wir familiäre Fragen und gehen weiter zu Seiten wie Begrüßung / Gesicht (mit dem Beispiel der schönsten Bundeskanzlerin der Welt) / Einkaufen. Sahal versteht wohl nur sehr wenig, viel motivierender sind aber die Erfolge in der Aussprache. Sehr schnell hat es sich gefunden, dass Sahal uns die Seiten vorliest und wir nur noch die Aussprache korrigieren, während die beiden am Nebentisch schon tiefere Lektionen probieren. Und als er es dann schafft, die Konjugation von Verben zu reproduzieren, freue ich mich ein bisschen.
    Einer der Sportlehrer kommt herein mit den Worten: "Ich rede, ihr übersetzt!" Seinen griechischen Akzent hätten sie ohnehin nicht verstanden, egal in welchem Tempo. Plötzlich geht es um Wörter wie "Fußball" und "Januar". Nun müssen wir erst einmal Monate durchgehen, dabei fällt uns dann auf, dass wir die Zahlen vergessen haben. Das mit den Jahreszeiten ist natürlich schwierig, doch die Monate im Allgemeinen funktionieren dann doch. Ich fange an, kleine Bildchen zu malen, und irgendwann haben sie dann auch verstanden, worum es geht. Eine Einladung zum Fußball, nett. Sie scheinen nicht begeistert; ich habe das Gefühl, dass sie über die Zukunft gar nicht so sehr nachdenken wollen.
    "Pause!" verkünde ich dann irgendwann; es ist anstrengender als gedacht. Ich stehe auf und gehe, besuche die Nachbarräume, wo meine Mitschüler, statt mit Flüchtlingen, sich mit Keksen beschäftigen dürfen. Sie langweilen sich und mich dann auch, trotzdem gibt mir der Anblick Befriedigung. Zwischendurch hole ich mir von der Deutschlehrerin die Genehmigung zu Dokumentation. Ich werde ausgefragt und bin jetzt wohl ein "Experte". Ironie, dass ich wohl einer von denen mit dem wenigsten Interesse an der Sache war, und trotzdem mein Kurs das Projekt macht und die drei ausgerechnet in "meinen" Raum kommen. Na ja, besser als Rumsitzen, Kekse gibt es bei uns auch. Die Flüchtlinge wollen nämlich partout nichts essen, vielleicht haben sie ja irgendeinen Fastentag?
    Als ich den Raum wieder betrete, bemerke ich die Unruhe der drei. Sie haben ihre Plätze nicht verlassen und wollen weitermachen. Vielleicht ist ihnen die kurze Besuchszeit bei uns nur allzu sehr bewusst. Eigentlich hatte ich das ja sowieso für sinnlos gehalten, sie für nur zwei Stunden hierherzubringen, aber ich sehe, wie schnell sie lernen und wie spannend sie es finden, hier zu sein. Wir machen also weiter; die Referendarin, die ihre verkündete "Beobachterrolle" nur zu schnell vergessen hatte und dafür umso mehr ihrer Englischkenntnisse bewusst wurde, hat den Platz für eine andere freigemacht. Sie war aber sehr sympathisch und kam gut mit meinen Minderheitenwitzen klar, also verzeihe ich ihr ihre Einmischungen. Für Witze ist aber jetzt ohnehin keine Zeit mehr. Sahal fängt nun auch selbstständig an weiterzulesen und schlägt eine weitere Seite auf. Die Kommunikation funktioniert jetzt immer besser und wir kommen schneller voran. Dass weitere Schüler in den Raum gekommen sind, stört Sahal, Hamidou und Mamadou überhaupt nicht; die Atmosphäre ist entspannt und fröhlich. Hamidou lacht über etwas und ich lache mit, ich liebe es, wenn Schwarze lachen; irgendwie sind sie dann ein Inbegriff der Fröhlichkeit. Worüber, weiß ich dann auch nicht genau. Ich werde ausgewechselt und kann mich nun voll meinen Dokumentationsnotizen widmen; nun nehme ich auch meine Mitschüler genauer in Augenschein. An ihnen entdecke ich ganz neue Seiten; sie sind sichtlich bemüht und fokussiert, andere schaffen es jedoch nicht, ihre Verunsicherung gegenüber den Fremden abzulegen, doch die drei nun nicht mehr ganz so Fremden stört das nicht und mich dann auch nicht mehr. Schließlich scheint die Wintersonne, jetzt und am besagten Samstag, schräg in die hohe Fensterfront. Ich fühle mich hingezogen; es sind Menschen, die einem auch im Smalltalk Sachen erzählen, die man noch nicht weiß, und Antworten geben, die man nicht voraussieht. Hamidou war wohl Minensucher, er zeigt uns ein Foto von sich in Mali auf seinem Smartphone. Ich bekomme mit, wie auch mit Sahal jetzt tiefere Lektionen gemacht werden, und ich freue mich.
    Als letzten Programmpunkt des Tages freue ich mich nun auf die Samba-AG. Immer noch schmunzelnd erinnere ich mich an die Aussage meiner Deutschlehrerin: "Die Flüchtlinge wurden zur Samba-AG eingeladen, aber es ist irgendwie niemand gekommen." Ich war wohl der einzige gewesen, der das lustig fand, aber ich habe ja auch keine Augen am Hinterkopf. Jedenfalls findet nun der zweite Versuch statt, die Flüchtlinge fürs Trommeln zu begeistern - denn, wie ich nun herausfinde, geht es nicht um den Tanz, sondern um den Rhythmus. Der ist ganz gut, wenn auch repetitiv. Wir geben der Kälte die Schuld an unserer fehlenden Tanzfreude, wir bestaunen die Trommler, die im T-Shirt sind. Aber ich habe Spaß, unsere drei Besucher sind ebenfalls interessiert und offen für unseren klassischen Karnevalszug-Beat. Trotzdem muss ich unvermindert daran denken, wie cool es jetzt wäre, in Afrika zum Rhythmus dunkler Buschtrommeln zu tanzen, auch wenn das den dreien vielleicht sogar genau so fremd ist wie mir. Jedenfalls schwanken wir alle ein wenig mit und beneiden das ein oder andere Kind, das wild durch die Gegend hüpft und dabei auch noch gut aussieht. Auf jeden Fall ist es doch ein gelungener Abschluss, auch entgegen meiner Erwartungen.
    Als die Trommler den Rückzug antreten, stehen wir noch fröhlich belebt zusammen.
Und die weiße Wintersonne, der endlos blaue Himmel über mir und der kühle Glanz auf dieser schneeversprechenden Welt erinnern mich an den ganzen, frischen Novembertag, der noch vor mir liegt.
Drei Händedrücke trennen mich von meinem Weg nach Hause.

Langsam schiebe ich mein Rad unter den klaren Wolken davon und sehe Mamadou winken.
Ich winke zurück.

Markus Brock