Rezension zur Lesung von Arno Geiger

In der Reihe „Interessante und anregende Rezensionen aus dem Deutsch-Leistungskurs“ präsentiere ich heute den Text von Mareile Metz und Toska Mussawisade aus der Q2, die ihre Eindrücke bei (und nach!) einer Lesung des Bestseller-Autors Arno Geiger zu seinem jüngsten Werk „Unter der Drachenwand“ berichten. Viel Spaß beim Lesen!
Dr. Tanja Kurzrock

Am 30. November 2021 haben wir (Toska und Mareile aus der Q2) eine Lesung von Arno Geiger besucht, der aus seinem Roman „Unter der Drachenwand“ vorgelesen hat. Wir haben den Roman vorher im Deutsch-LK gemeinsam gelesen und konnten durch Frau Dr. Kurzrock (unsere LK-Lehrerin) stellvertretend für den Kurs an der Lesung teilnehmen.
Der Roman spielt im zweiten Weltkrieg und es wird das Leben des Soldaten Veit Kolbe aus seiner Perspektive geschildert. Neben der von dem Protagonisten geschilderten Haupthandlung besteht der Roman aus mehreren Einschüben, in Form von Briefen oder Tagebucheinträgen, welche aus der Sicht von weiteren Figuren verfasst wurden. 
So beschreibt der Roman mithilfe von so genannten Stellvertreterfiguren, die verschiedene Blickwinkel und Meinungen zu der damaligen NS-Ideologie repräsentieren, die Entwicklungen und das Geschehen des Zweiten Weltkriegs. 

Die Lesung war unterteilt in drei Vorlesesequenzen mit jeweils anschließenden Fragerunden.
Arno Geiger schilderte seine Vorbereitung auf das eigentliche Schreiben, die zehn Jahre Recherche umfasst habe – zum Beispiel auf der Grundlage von aus der Zeit stammenden Originalbriefen und damaligen Polizeiberichten. 
Der reine Schreibprozess habe hingegen „nur“ vier Monate gedauert, die er als äußerst emotional, anstrengend und einnehmend beschrieb. Er bezeichnete seinen Schreibstil als „anfallartig“, wobei es ihm durch diese Technik gelinge, das Erleben der Figuren besonders gut nachzuempfinden. Trotz der rund 15 000 Originalbriefe und der verwendeten historischen Quellen ist die Handlung des Romans frei erfunden und fiktiv. Geiger beschrieb, wie er das damalige Lebensgefühl aus den Briefen übernommen habe und so soziale Beziehungen vor dem Hintergrund des Krieges habe erzählen können. Um dies möglich zu machen, entschied er sich, seinen Roman mitten im Krieg spielen zu lassen, um die Ungewissheit, mit der die  Figuren konfrontiert gewesen seien, und den damaligen Zeitgeist möglichst realistisch beschreiben zu können. 
Neben dem Hauptort der Handlung, einem kleinen Ort am Mondsee in der Nähe von Salzburg, ist ein weiterer zentraler Handlungsort des Geschehens die Stadt Darmstadt, wobei Geiger erklärte, diese Stadt gewählt zu haben, da dort 1944 die Zerstörung durch Bombardierungen sehr extrem gewesen seien und dies der Dramaturgie des Romans zugute gekommen sei. 
Eine sofort ins Auge stechende Besonderheit ist, dass Arno Geiger in seinem Roman einen Schrägstrich („/“) als zusätzliches Satzzeichen verwendet. Auf Nachfrage sagte er, dass dieses Zeichen von der Funktion her „mehr als einen Punkt, aber weniger als einen Absatz“ signalisiere. Der Schrägstrich diene der Rhythmisierung des Textes und stelle zudem einen einzigartigen Wiedererkennungswert dar. Die Interpretation einer Leserin sei ihm besonders im Gedächtnis geblieben: „Das ist die Drachenwand!“

Uns beiden hat die Lesung sehr gut gefallen, wir haben viele neue Erkenntnisse gesammelt und konnten unsere Erfahrungen im Unterricht auf uns vorher nicht bekannte Weise anwenden. 
Zuerst hat uns hat uns sehr erstaunt, dass die Konzeptionsphase so viele Jahre in Anspruch genommen hat. Außerdem waren wir beeindruckt von Geigers Schilderungen, da er seinen Schreibprozess selbst als „emotionale Selbstausbeutung“ beschrieb. Wir beide haben durch die Lesung ganz neue Erkenntnisse über die Arbeitsweise und die Hingabe gewonnen, die für den Schreibberuf augenscheinlich notwendig ist. Geigers emotionale Verbundenheit zu dem Roman lässt sich an verschiedensten Stellen erkennen. So stellt er den Leser bzw. die Leserin vor moralische Entscheidungen und hebt den so genannten gemischten Charakter des Protagonisten hervor, den er selbst als „graue“ Figur bezeichnet. 
Besonders aufschlussreich fanden wir Geigers Erläuterungen zu der Figur des Oskar Meyer, der als verfolgter Jude dem Holocaust im Roman seine Bedeutung verleiht. Geiger erklärte, wie wichtig es sei, den Toten durch die Überlebenden eine Stimme zu verleihen, wobei er sich nicht in der Position sehe, das Leiden der Juden aus erster Hand zu erzählen, sondern es darum gehe, sich an die unaussprechlichen Verbrechen der Nationalsozialisten angemessen zu erinnern. Hierbei sind wir uns einig, dass moderne, fiktionale Literatur über das Dritte Reich eine von vielen Möglichkeiten ist, eine adäquate und kollektive Erinnerungskultur zu schaffen. 
Diese Möglichkeit schien auch Geiger bewusst zu sein, da er sich freute, dass sein Roman seit diesem Jahr in das Zentralabitur in NRW aufgenommen wurde und so von vielen jungen Menschen gelesen wird. Für Geiger stehen die sozialen Beziehungen und das alltägliche Leben im Vordergrund seines Romans, wodurch Schüler und Schülerinnen nicht nur den historischen Zweckaspekt vermittelt bekommen, sondern die Inhalte auch auf die aktuelle Gesellschaft beziehen können. 
Daher bezeichnet Geiger selbst seinen Roman nicht als Antikriegsroman oder Kriegsroman, sondern als einen Gesellschaftsroman.

Abschließend können wir den Roman aus vollem Herzen weiterempfehlen und sind der Meinung, dass es sehr sinnvoll und lehrreich ist, dieses Werk Arno Geigers weiterhin in der Schule zu lesen. 
Die Lesung hat uns sehr gut gefallen und wir konnten so die persönliche Beziehung zwischen Autor und Werk nachempfinden. 
Wir haben uns sehr über die Gelegenheit dieser persönlichen Begegnung gefreut und möchten uns bei Frau Dr. Kurzrock dafür bedanken!