Rezension zu "Woyzeck" im Horizont-Theater Köln

In der Reihe „Interessante und anregende Rezensionen aus dem Deutschunterricht“ präsentiere ich heute den Text von Laura Flatt (Q2), die zu einem klaren Urteil über eine aktuelle „Woyzeck“-Inszenierung im Horizont-Theater kommt.
Also – runter vom Sofa und rein ins Theater! Viel Spaß beim Lesen!
Dr. Tanja Kurzrock
Die Inszenierung des Dramenfragments ,,Woyzeck“, das von Georg Büchner verfasst und 1879 veröffentlicht wurde, fand im Horizont-Theater unter der Regie von Christos Nicopoulus statt. Sie präsentiert eine düstere Interpretation des Klassikers, bei der die Themen Machtmissbrauch und psychischer Zerfall im Vordergrund stehen. Es wurden die gesellschaftlichen Abgründe des Protagonisten dargestellt, zentrale Aspekte des Orginalwerks wurden aufgegriffen, jedoch bleiben wichtige thematische Tiefen teilweise ungenutzt.
Die Rollen des Doktors, des Hauptmanns und von Woyzeck selbst sind treffend besetzt und sehr passend gespielt. Der Hauptmann und der Doktor schaffen starke Kontraste zu Woyzeck und stellen ihre Macht über ihn klar zur Schau, dies macht die soziale Hierarchie, die herrscht, sehr sichtbar. Besonders gut gelungen ist ein längerer Monolog des Doktors. Im Dramenfragment ist die Szene unter dem Namen ,Beim Doktor‘zu finden. Der Doktor tritt vor Woyzeck auf und hält einen belehrenden Vortrag über die Wichtigkeit von Ordnung, Wissenschaft und Disziplin. Dabei betont er, dass Woyzeck aufgrund seines Ernährungsplans (ausschließlicher Verzehr von Erbsen) die wissenschaftlichen Prinzipien bestätigen soll. Der Monolog ist durchzogen von einer Mischung aus Arroganz und Ironie. Der Doktor spricht zu Woyzeck nicht wie zu einem Menschen, sondern wie zu einem Versuchstier. Er misst seine Reaktionen, beobachtet seine körperlichen Symptome und erklärt diese demütigend als wissenschaftliche Ergebnisse. Im Theater spricht der Doktor das Publikum direkt an, als wäre es eine Gruppe von Studenten – eine effektive, direkte Verfremdung. Dies erzeugt eine ironische Distanz und lässt die Grausamkeit der Szene noch deutlicher hervortreten. Der Kontrast zwischen der pseudo-wissenschaftlichen Sprache des Doktors und der stillen Verzweiflung Woyzecks macht die Szene besonders eindrucksvoll.
Leider fällt die Darstellung von Marie dagegen ab. Ihre Rolle war sehr repetitiv, zum Beispiel stieg sie immer wieder auf eine Erhöhung auf der Bühne, was darstellen sollte, dass sie sich nun in ihrer Kammer befindet. Ihre Emotionen schienen sich nicht viel zu verändern, sie hatte stets ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie strahlte nahezu keinen Elan aus und auch wenn sie sang, klang dies eher monoton und ohne Emotion. Dadurch wirkt sie stellenweise unauthentisch und schwach, sodass die emotionale Tiefe ihrer Beziehung zu Woyzeck nur schwer greifbar ist.
Das karge Bühnenbild unterstützt die düstere Atmosphäre des Stücks, bleibt jedoch in seiner Monotonie über die gesamte Aufführung hinweg gleich, was den Spannungsaufbau erschwert.
Eine interessante Wahl ist die Einbindung des Publikums, in das sich die Schauspieler begeben, um eine größere Nähe und Intimität zu schaffen. Der Doktor kommt aus den Zuschauerrängen, Andres schläft neben der Menge und Marie wird in einer Ecke des Publikums ermordet – diese Elemente bringen die Handlung näher ans Publikum heran und verstärken die Wirkung der Tragödie.
Anders als in unseren Editionen des Dramenfragments beginnt die Inszenierung mit der Szene, in der Woyzeck den Hauptmann rasiert. Diese Szene ,Beim Hauptmann‘kommt in unseren Werkausgaben erst später vor. Sie ist die dritte Szene (in einigen Versionen auch die vierte) und dient dazu, Woyzecks Abhängigkeit und Demütigung durch die höheren Gesellschaftsschichten darzustellen. Der Hauptmann nutzt diese Situation, um Woyzeck herabzuwürdigen und seine moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Diese Szene wurde mit einer mutigen Ergänzung versehen, die Büchners Darstellung der Machtverhältnisse und der Erniedrigung intensiviert. Statt die Szene an ihrem ursprünglichen Ende zu belassen, geht die Inszenierung noch weiter: Der Hauptmann, dem Woyzeck für ein kleines Entgelt ausgeliefert ist, demütigt ihn, indem er ihn sexuell missbraucht. So wird das Publikum direkt zu Beginn in die extreme soziale und psychische Spannung eingeführt, die Woyzecks Leben prägt. Der Hauptmann – ohnehin eine Symbolfigur für Willkür und Verachtung, mit der die Gesellschaft auf Woyzeck herabblickt – wird zur Verkörperung sadistischer Macht und eiskalter Gewalt. Dieser Einfall betont nicht nur die Kälte und Unbarmherzigkeit des Hauptmanns, sondern veranschaulicht auch, dass Woyzecks Überlebenswille ihn dazu zwingt, jede Erniedrigung zu erdulden, sogar eine Vergewaltigung.
Der Darsteller der Rolle Woyzeck verleiht dieser eine Körpersprache, die sowohl Verzweiflung als auch lähmende Resignation ausdrückt. Die Darstellung der absoluten Machtlosigkeit, die durch die Übergriffigkeit des Hauptmanns noch verstärkt wird, lässt das Publikum die schmerzvolle Realität des Charakters intensiv nachfühlen. Die Inszenierung wagt hier ein radikales Stilmittel, das moralische Fragen aufwirft und die Darstellung der Abhängigkeit und Ausweglosigkeit Woyzecks schärfer konturiert.
Auffällig bei dieser Inszenierung ist der durchgehend schnelle Szenenwechsel, der kaum Raum lässt, das zuvor Geschehene zu verarbeiten. Jede Szene folgt ohne Übergang auf die nächste, sodass das Publikum nur schwer die Zeit findet, die Tragweite der Ereignisse nachzuvollziehen und emotional darauf zu reagieren. Diese durchgehend hohe Geschwindigkeit verleiht dem Stück zwar eine gewisse Dynamik, doch bleibt dabei die Tiefenwirkung einzelner Szenen auf der Strecke. Es fehlt an gezielten Akzenten, die bestimmte Momente hervorheben und dem Zuschauer Gelegenheit geben, die zentralen Konflikte und Qualen Woyzecks intensiver nachzuempfinden. Durch die Monotonie der Übergänge verlieren die Szenen an individueller Bedeutung und wirken, trotz der starken schauspielerischen Leistung, weniger kraftvoll und pointiert. Die Inszenierung hätte hier von gezielt eingesetzten Pausen profitieren können, um Woyzecks verzweifeltes Innenleben noch eindringlicher darzustellen und dem Publikum die Möglichkeit zu geben, die emotionalen Höhepunkte besser zu verarbeiten.
Von den vier Hauptdeutungen, die ,Woyzeck‘ in der Theatergeschichte erfahren hat, wird vor allem die Lesart des ,,sozialen Dramas“ hervorgehoben. Woyzeck wird hier als Opfer von Machtstrukturen und sozialer Ungleichheit gezeigt. Dies ist bereits in der Eröffnungsszene zu erkennen: Während der Rasur des Hauptmanns wird Woyzeck gedemütigt und schließlich zu einer weiteren erniedrigenden Handlung gezwungen, für die er ein wenig Geld erhält. Diese Szene verdeutlicht die Ausbeutung, die Woyzeck erleidet, und wie seine finanzielle Abhängigkeit ihn in einem System aus Unterdrückung gefangen hält.
Neben dem sozialen Drama greift die Inszenierung die Lesart des psychologischen Dramas auf. In einer eindrucksvollen letzten Szene nach dem Mord an Marie steht Woyzeck allein auf der Bühne, umgeben vom Hauptmann und Doktor, die wie Schatten seines unterdrückten Innenlebens auftreten. Die Lichtregie nutzt hier verschiedene Lichtfarben und -intensitäten, um die zerrissene Gefühlswelt Woyzecks darzustellen – eine effektvolle visuelle Umsetzung seines Wahnsinns. Der Hauptmann und der Doktor wiederholen ihre herablassenden Aussagen, wie etwa ,,Woyzeck, er hat keine Würde“, die während des Stücks immer wieder auf ihn niedergeprasselt sind. In dieser Inszenierung erscheint es, als wären die beiden Figuren nur Stimmen in seinem Kopf, die ihm erneut seine Unterdrückung und Ohnmacht vor Augen führen.
Die Figur des Tambourmajors, wie im Original prahlerisch und aggressiv dargestellt, fügt sich ebenfalls in diese Interpretation ein. Er erscheint als überheblicher Charakter, der seine Macht und körperliche Überlegenheit gegenüber Woyzeck schamlos zur Schau stellt und ihn physisch als auch psychisch unter Druck setzt. Die Präsenz des Tambourmajors unterstreicht die Kette an Erniedrigungen, die Woyzeck widerfährt, und betont damit den Aspekt der sozialen Unterdrückung.
Die Moritat- und Eifersuchtslesarten, die ,Woyzeck‘ als tragische Ballade und die gleichnamige Hauptfigur als eifersüchtigen Liebhaber zeigen, werden dagegen nur angedeutet. Zwar wird die Beziehung zu Marie thematisiert, doch die Darstellung bleibt etwas distanziert. So fehlt der Beziehung emotionale Tiefe.
Der in Büchners Werk sehr zentrale Pauperismus, also das Elend und die Armut, die Woyzecks Handlungen antreiben, hätte ebenfalls mehr Gewicht verdient. Zwar wird deutlich, dass Woyzeck immer wieder durch Geldmangel gezwungen ist, sich den Experimenten des Doktors und den Aufgaben des Hauptmanns zu unterwerfen, doch die Inszenierung hätte die existenzielle Notlage und Abhängigkeit noch stärker herausstellen können.
Abschließend lässt sich sagen, dass diese Inszenierung von ,Woyzeck‘ durch ihre mutigen stilistischen Entscheidungen eine intensive und beklemmende Atmosphäre schafft. Das Stück schließt die Handlung mit einem eindrucksvollen Finale, das Woyzecks psychischen Zerfall und die zerstörerische Wirkung der gesellschaftlichen Verachtung und Erniedrigung meisterhaft darstellt. Insgesamt gelingt es, die Themen Machtmissbrauch, Entmenschlichung und soziale Ungerechtigkeit intensiv herauszuarbeiten und die Zuschauer tief in Woyzecks zerrissene Gefühlswelt eintauchen zu lassen. Auch wenn einige Inszenierungsmomente, wie der schnelle Szenenwechsel, weniger Raum zur Reflexion boten, bleibt die Aufführung durch die kreative Regie und die starke schauspielerische Leistung in Erinnerung. Ein kraftvolles und erschütterndes Theatererlebnis, dass die Tragik des Woyzeck eindrucksvoll spürbar macht.
(Laura Flatt, Q2)