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Rezension zum Film "Der Sandmann" (Dahn, 2012) von Sita Grabbe

In der Reihe „Interessante und anregende Rezensionen aus dem Deutsch-Leistungskurs“ präsentiere ich heute den Text von Sita Grabbe, der zu einem – nach differenziertem und kenntnisreichem Abwägen – klaren Urteil über eine jüngere „Sandmann“-Verfilmung kommt. Viel Spaß beim Lesen der besten Rezension aus meinem Deutsch-Leistungskurs der Q1!
Dr. Tanja Kurzrock

 

Der Film „Der Sandmann“, der auf der gleichnamigen Novelle E. T. A. Hoffmanns beruht, wurde 2012 veröffentlicht. Regie führte Andreas Dahn, produziert wurde der rund 50-minütige Film von dem FFL-Film- und Fernseh-Labor in Koproduktion mit der Filmakademie Baden-Württemberg.  

Hauptfigur ist der junge Student Nathanael, der seine Heimatstadt verlässt, um in einer dem*der Zuschauer*in unbekannten Stadt zu studieren. In seiner frühen Kindheit erleidet er ein Trauma, welches ihn bis heute plagt.

Als er ein Kind ist, besucht abends häufig ein unbekannter Mann seinen Vater. Nathanaels Mutter schickt ihn zu diesem Zeitpunkt stets unter dem Vorwand ins Bett, der „schauerliche“ Sandmann komme. Sie will nicht, dass sich Nathanael und der Unbekannte begegnen. Neugierig schleicht Nathanael trotzdem in das Zimmer des Vaters und beobachtet den vermeintlichen Sandmann und seinen Vater. Der Sandmann ist Coppelius, ein Bekannter der Familie. Eines Nachts stirbt der Vater bei alchemistischen Experimenten, die er mit Coppelius durchführt. Nathanael gibt daran Coppelius die Schuld. Er hasst ihn zutiefst, spricht sogar davon, ihn töten zu wollen, sollte dieser ihm je wieder unter die Augen treten.  Als Jahre später der Wetterglashändler Coppola in sein Leben tritt, wird Nathanael zurück in seine Kindheit versetzt: Angst, Panik und Wut kommen in ihm hoch. Er beschließt, in seine Heimat zurückzukehren, weil er sich vom Sandmann verfolgt fühlt. Zuhause angekommen schildert er seiner Verlobten Clara seine Kindheitserinnerungen, welche ihn beschwichtigt.  Nachdem er wieder an seinen Studienort zurückgekehrt ist, ist Nathanael immer noch von der Begegnung mit dem Wetterglashändler durcheinander und bleibt depressiv und pessimistisch. Auch sein Kommilitone Siegmund versucht ihn beschwichtigend zu überzeugen, das Leben zu genießen, aber Nathanael bleibt stur. Als nun erneut der Wetterglashändler Coppola in sein Leben tritt, stellt Nathanael sich diesem und kauft ihm ein Fernglas ab, durch welches er im Nachbarhaus die Tochter seines Professors Spalanzani entdeckt, Olympia. Kurz darauf Nathanael kehrt ein weiteres Mal in seine Heimatstadt zurück und trägt Clara sein eben geschriebenes Liebesgedicht vor, nur abwesend hört sie ihm zu. Sie bittet ihn jedoch, ein weiteres Gedicht vorzulesen. Es handelt von ihrer Hochzeit, von der er vor Kurzem träumte. Nathanael bittet Clara freudig, es selbst vorzulesen. Nichtsahnend, dass der Hochzeitstraum ein Albtraum war, liest Clara das Gedicht vor. Sie fühlt sich davon persönlich angegriffen und verletzt, was Nathanael wiederum so wütend macht, dass er sie als lieblosen Automaten bezeichnet. Clara wirft Nathanael vor, dass er sich von ihr abwende und eine surreale Sicht auf die Welt angenommen habe. Als Nathanael erneut in seine Studentenstadt zurückkehrt, besucht er mit Siegmund einen von Professor Spalanzani ausgerichteten Ball, auf dem dieser Olympia der Gesellschaft präsentiert. Gebannt von deren Schönheit und Stimme verliebt sich Nathanael in sie, schreibt ihr Gedichte und verbringt fortan viel Zeit mit ihr, obwohl er immer noch mit Clara verlobt ist.  Für Nathanael verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie immer mehr, zunehmend verfällt er in einen Wahn. Ob er diesen jedoch überstehen wird und wie die Geschichte weitergeht, lasse ich hier offen.  

Die Geschichte vom Studenten Nathanael wird in der Verfilmung sehr lebhaft dargestellt. Rückblenden in die Kindheit am Anfang des Films erklären dem*der Zuschauer*in die Kindheitsgeschichte Stück für Stück. Ganz allmählich erschließt sich dem*der Zuschauer*in der Grund für Nathanaels Wahnvorstellungen. Das wörtliche Zitat seines Vaters „Wen oder was Du in Dein Leben ziehst“, geistert immer wieder durch den Film. Dargestellt wird Nathanaels enge Verbindung zu seiner Kindheit, die ihn nicht loslässt. Das Besondere an dem Film ist, dass der Erzähler sich am Anfang, zwischendurch und am Ende explizit als Stimme aus dem Off zu Wort meldet. Um die Nähe zur literarischen Vorlage herzustellen, werden immer wieder Originalzitate verwendet.  

Bei dieser Literaturverfilmung handelt es sich den Adaptionstypen der Aneignung, d. h. die Märchennovelle „Der Sandmann“ liefert den Inhalt zum Film, der jedoch nicht eins zu eins übernommen wird, sodass es etwa auch hinsichtlich der inhaltlichen Abfolge Abweichungen in der Handlung gibt. In der Novelle werden Nathanaels psychologische Probleme durch den anfänglichen Briefverkehr zwischen ihm und Claras Bruder Lothar bzw. Clara eingeführt. Dieser Briefwechsel wurde im Film ausgelassen. Durch eine Transformation wird auch das Ende im Film anders dargestellt als im Urtext, und Szenen der Novelle werden im Film uminterpretiert. Enttäuschend finde ich dabei, dass der Film mit seiner Interpretation zu sehr vom Original und Urtext abweicht.

Dieser Film ist zu Lehrzwecken entstanden. Daher können wir ihn nicht mit einem 90-minütigen Kinoblockbuster vergleichen, der sich durch exzellente Schauspieler*innen auszeichnet und sich die Zeit nimmt, die Geschichte so ausführlich und authentisch wie nur möglich zu erzählen oder die Figuren auszugestalten.

Zum Motiv des Wahnsinns hätte ich mir mehr Ausführlichkeit gewünscht. Zu kurz und zu wenig wird Nathanaels düstere Entwicklung gezeigt und zu wenig auch die Konflikte, die sich zwischen ihm und Clara entwickeln. Clara, die in Hoffmanns Text der Gegenpart zu Nathanael ist, wird zu oberflächlich, zu vorsichtig, zu schwach, zu zerbrechlich und zu nachgiebig dargestellt. Auch wird ihrer Rolle insgesamt zu wenig Raum gegeben. Sie verliert dadurch ihren Charakter der selbstbestimmten Frau. Im Film wird sie eher als eine Art „Schoßhündchen“ dargestellt, das Nathanael trotz Frust hinterherläuft, um verständnisvoll zu vermitteln. Nathanaels Wahn und sein eigenes anfängliches Wissen darum geben der Novelle die nötige Dramatik. Dadurch wird es ist umso bewegender, zu lesen, wie er versucht, den Kampf gegen diesen Wahn zu gewinnen.

Ein weiterer Kritikpunkt aber sind die ersten Rückblenden, die nur kurz eingestreut werden, als Nathanael panisch wird. Sie sind für den*die Zuschauer*in ziemlich verwirrend; sie unterbrechen den Fluss des Filmes. Mit mehr Ausführlichkeit und Stringenz hätte sich das Trauma des armen kleinen Nathanaels für den*die Zuschauer*in besser erklärt. Hierdurch leidet die Darstellung des Wahns. Auch durch das Auslassen wichtiger Figuren, wie etwa Claras Bruder, verliert die Geschichte an Bedeutung. Siegmund nimmt zwar im Film teilweise die Rolle Lothars ein, dieser hat aber eine viel innigere Beziehung als Siegmund zu Nathanael und erscheint in Schlüsselmomenten der Novelle als besonders wichtig.

In der Novelle wird das Albtraumgedicht von Nathanael selbst vorgetragen. Clara ist daraufhin bedrückt, zeigt sich frustriert und ist so gekränkt, dass sich Lothar verpflichtet fühlt, sich um ihre Ehre mit Nathanael zu duellieren. Clara kann dies gerade noch rechtzeitig verhindern. Ihre Beziehung zu Nathanael wird dadurch wieder gestärkt und bildet für beide eine Stütze. Für einen Moment sind Clara und Lothar die Familie, die Nathanael bekräftigt, ermutigt und wieder (oder zumindest vorerst) auf den rechten Weg zurückbringt. Der Film verzichtet auf die Darstellung des heilen Familienidylls. Es gibt keine Versöhnung, ergo kommt es zu keinem erfüllten Glücksmoment für Nathanael. Die recht moderne Sprache, die wahrscheinlich aus Gründen des besseren Verständnisses gewählt worden ist, ist definitiv damals so nicht gesprochen worden, und auch die Nähe, die Berührungen, die zwischen Clara und Nathanael zu beobachten sind, sind weit entfernt von den damaligen Konventionen. Die Frage, die sich hier stellt, ist, um welchen Preis man entstehungszeitliche Aspekte außen vor lässt, um eine möglichst verständliche Verfilmung zu produzieren. Meiner Meinung nach hat gerade ein Lehrfilm einen gewissen Auftrag zu erfüllen und sollte nicht an Authentizität verlieren, damit weder das Damalige in Vergessenheit gerät noch die Hauptintention verloren geht: das Aufklären und Belehren. Insgesamt erachte ich den Film als empfehlenswert, wenn sich vorher ausführlich mit der Novelle auseinandergesetzt wird, damit alle Gegebenheiten geklärt sind.

Trotz meiner in Teilen harten Kritik gefällt mir vor allem eine Szene besonders: Als Clara Nathanaels Gedicht vorliest, spiegelt ihre Mimik sehr gut wider, welche Emotionen sie dabei überkommen: Enttäuschung und Verletzlichkeit gelangen hier gekonnt zum Ausdruck. Auch Nathanaels wahnbedingte Aggressivität wird in dieser Szene gut dargestellt, wäre aber durch die entsprechend ausführlichere und vor allem Urtext-getreuere Vorarbeit verständlicher.  Die Anschlussszene zerstört jedoch die eindeutige Interpretation: Clara läuft Nathanael nach, sucht seine Nähe und bleibt trotz seiner Zurückweisung bei ihm. Der Charakter der starken und stolzen Clara, die das Gefühl der Kränkung und des Liebeskummers eigentlich zulässt, verschwindet. In Hoffmanns Novelle hält sie ihren Bruder davon ab, sich mit ihrem Verlobten zu duellieren, und ist für beide Männer eine respektierte junge Frau mit starkem und weisem Willen. Durch das Verweichlichen dieses Charakters wird (wieder einmal) überschattet, dass es schon damals kluge, emanzipierte Frauen gab.